Familie Johan Mattsson Wijnbladh

Die Suche beginnt mit zwei mecklenburgischen Kirchenbucheinträgen und einem schwedischen Adelskalender. Anfangs stellt sich heraus, dass meine Vorfahren vor 1830 in Friedland ansässig waren. Zum ersten Mal denke ich, ja - Friedland im Grenzgebiet zum ehemaligen schwedischen Vorpommern - die überlieferte Familiengeschichte könnte tatsächlich einen wahren Kern haben. Es lohnt sich, sie weiter zu verfolgen. Da mir jeder zeitliche Anhaltspunkt fehlt, suche ich zunächst nach dem frühesten Eintrag in ein mecklenburgisches Kirchenbuch auf den Namen Lagemann in dieser Gegend. Und tatsächlich - es gibt ihn. 1725 heiratet im Kirchspiel Schwanbeck auf dem Friedländer Werder eine Witwe Lagmann zum zweiten Mal. Es trifft sogar zu, dass sie den Namen Lagmann trägt, wie es die Familiengeschichte überliefert. Sollte ihr verstorbener Ehemann mein gesuchter Duellant Wijnbladh sein, so könnte er in etwa um 1650 in Schweden geboren worden sein.  /5/

Mit dieser Vermutung wälze ich wenig später einen schwedischen Adelskalender und werde erst auf den zweiten Blick fündig. Zwar haben fast alle Söhne der Familie Wijnbladh in der fraglichen Zeit eine militärische Karriere angetreten, aber jeder ist eines natürlichen Todes in Stockholm oder der Nähe von Uppsala gestorben. Erst beim zweiten Hinsehen - in wesentlich ruhigerem Zustand - entdecke ich, dass relativ ausführlich nur die Personen beschrieben werden, die den Stammbaum weiterführen - bei der unsrigen Geschichte natürlich unmöglich ... Nun finde ich - ein bisschen versteckt - Angaben zum ältesten Sohn der Familie Axel Wijnbladh, getauft 1643 in Stockholm, Rittmeister im Ostgöta Kavallerieregiment. Unter dem Jahr 1677 befindet sich der mit einem Fragezeichen versehene Eintrag: Abgang vom Regiment und Tod im selben Jahr. Eine derart vage Angabe hatte ich noch bei niemandem gefunden, immer gab es Sterbedatum, Beerdigungsort, Tod in welcher Schlacht oder ähnliches ... ich hätte ausrufen mögen: Er lebt!, obwohl er doch seit 300 Jahren tot war. Gefühlsmäßig wusste ich nun, dass ich auf der richtigen Spur war.  /8/

Als ich an diesem Herbsttag in den mit uraltem Wein bewachsenen Innenhof der Staatsbibliothek trete, weht mir ein Windstoß hunderte von roten Weinblättern vor die Füße. Ich nehme es als Zeichen - ungewiss, wohin es mich tragen wird - und beginne meine Suche. Von nun an heißt es, einen Lebensweg zu rekonstruieren und viele kleine Puzzleteile zu einem Bild zusammenzufügen. Immer ist mir bewusst, dass es wohl nie einen endgültigen Beweis geben würde. Es bleibt eine Geschichte voller Wahrscheinlichkeiten. Einzig gelingen kann, der Wirklichkeit so nah wie möglich zu kommen, um irgendwann zu sagen: Ja, so könnte es gewesen sein!

Axel Wijnbladh wird Ende 1642 in Stockholm geboren und am 4. Januar 1643 in der dortigen Storkyrkan, der Nikolai-, auch Dom- und Krönungskirche, getauft. Er ist der älteste Sohn Johan Mattsson Wijnbladhs und seiner ersten Ehefrau Ingeborg Andersdotter. Axels Großvater väterlicherseits ist der Bürger und Handelsmann Mattias Johansson aus Norrköping, seine Großmutter väterlicherseits Helena Simonsdotter, Tochter des Pfarrers Simon Winblad aus Helsingfors im heutigen Finnland. Aus dieser großmütterlichen Linie stammt der Name Wijnbladh, den die Familie mit Annahme des Adelspatentes trägt.

Axels Großvater, der Handelsmann Mattias Johansson, wohl etwa um 1580 geboren, lebt mit seiner Familie im betriebsamen Norrköping. Es ist damals die zweitgrößte Stadt Schwedens und liegt an der Handelsstraße von Kalmar nach Stockholm. Norrköping verfügt über einen Hafen mit direkter Verbindung zur Ostsee. Ursprünglich werden vor allem Eisen, Teer und Pech verschifft, aber an der Wende des Jahrhunderts entwickeln sich andere Wirtschaftszweige und moderne Verarbeitungsmethoden, die den Ort zur ersten Industriestadt Schwedens machen. Der wirtschaftliche Aufstieg der Stadt fällt in die Lebenszeit von Mattias Johansson. Die reichliche Wasserkraft des Flüsschens Motala führt dazu, dass sich Tuchmacherei, Papierindustrie, Stahlherstellung, Blechschlägereien und Eisendrahtziehereien ansiedeln. Den besonderen Aufschwung verdankt Norrköping aber dem holländischen Geschäftsmannes Louis de Geer, der die Stadt ab 1627 zum Zentrum seines Wirkens in Schweden macht. Als Wohnung und Kontor errichtet de Geer das sogenannte "Stenhuset" im Norden der Stadt. Er entwickelt Norrköping zum ersten Textilplatz Schwedens, legt Färbereien, Walkmühlen und Schiffswerften an. Eine besondere Rolle aber spielen die nahe Eisenhütte in Finspang und die neue Messinghütte in Norrköping. Eisen- und Kupferhandel bilden die Finanzgrundlage für Gustav Adolfs Siege im Dreißigjährigen Krieg. Der größte Teil der Waffen - Musekten, Harnische, Schwerter, Geschütze, Pistolen, Kugeln und anderes - kommen aus der Fabrikation Louis de Geers. So ist er bald der einflussreichste Geschäftsmann am schwedischen Hof und verhilft Norrköping zu wirtschaftlicher Blüte.

Gymnasium in Linköping um 1700
In dieser prosperirenden Umgebung wächst Axels Vater Johan Mattsson auf. Am 15. März 1615 wird er in Norrköping getauft. Hier geht er zur Schule und besucht anschließend das Gymnasium im benachbarten Linköping, das als Bischofssitz und Residenzstadt das geistige Zentrum Osgötlands und ein weithin bekannter Schulstandort ist. Johans Vater profitiert als Bürger und Handelsmann sicher von dem wirtschaftlichen Aufschwung seiner Heimatstadt Norrköping und kann es sich leisten, seinem Sohn eine solide Bildung angedeihen zu lassen. Ob der Vater Einfluss und Reichtum im Tuchhandel oder gar im Waffenhandel erlangt, lässt sich nicht erhellen.  /18/

Ab Oktober 1629 tritt Johan Mattsson mit vierzehn Jahren in die Universität Uppsala ein. Nach vier Jahren schließt er sein Studium ab und nimmt eine Stelle als Hauslehrer für Axel Åkesson und Axel Thuresson Natt och Dag an. Die beiden zwölf und achtjährigen Jungen sind Cousins. Ihre Väter sind Reichsrat und Freiherr Ake Axelsson Natt och Dag bzw. der Assesor im Schwedischen Hofrat Ture Axelsson Natt och Dag. Im März 1633 schreiben sich beide an der Universität in Uppsala ein. Wie üblich werden die minderjährigen Kinder dabei von ihrem Hauslehrer begleitet.

Reichskanzler Axel Oxenstierna
Diese jahrelange Hauslehrerstelle bedeutet für Johan Mattsson wohl den Eintritt in schwedische Hofkreise. Die Mutter seines älteren Schülers Axel Åkesson Natt och Dag ist schließlich des Reichskanzlers Axel Oxenstiernas Schwester Elsa. Als sein jüngerer Schüler Axel Thuresson Natt och Dag nach Abschluss der Studien 1639 Kammerherr bei Königin Christina wird, erhält auch Johan Mattson im gleichen Jahr eine Anstellung als Schreiber in der Reichskanzlei Oxenstiernas. Innerhalb von acht Jahren steigt der offensichtlich begabte junge Mann hier zum königlichen Sekretär auf. In der Kanzlei arbeiten unter der Aufsicht Oxenstiernas Sekretäre, Schreiber, Kopisten und Konzipisten. Ihr Tagesablauf unterliegt strengen Vorschriften, geregelt in der Kanzleiordnung von 1618. Die Kanzlei muss durch eine Schranke ständig verschlossen sein und darf nur durch Berechtigte oder Vorgeladene betreten werden. In der Frühe werden die täglich eingehenden Schreiben kontrolliert. Anschließend treten Kanzler, Räte und Sekretäre zu Versammlungen zusammen und beratschlagen über anstehende Entscheidungen. Die königlichen Sekretäre verwalten die unterschiedlichen länderspezifischen außenpolitischen oder innenpolitischen Fachbereiche. Wer hier arbeitet, muss besonders vertrauenswürdig sein, hat er doch täglichen Umgang mit Staatsgeheinissen. Als im April 1651 der Kanzlist Martinus Gestrenius, dessen Vater Mathematikprofessor an der Universität in Uppsala ist, königliche Unterschriften fälscht und das Kanzlei-Siegel benutzt, um falsche Briefe auszugeben, wird er am 23. April des Jahres zum Tode verurteilt, in dem ihm selben Tags auff dem Nordermalms-Markt zu Stockholm das Haupt abgeschlagen worden. Im Herbst des gleichen Jahres gibt es einen weiteren aufsehenerregenden Vorfall in der Kanzlei. Einem Sekretär werden von seinem jesuitischen Beichtvater ein königlicher Reisepass mit Briefen und anderen Geheimnissen entwendet. Obwohl der König dem Flüchtenden acht Einspänner hinterherschickt, gelingt es nicht, ihn einzuholen. Er taucht später in Hamburg bzw. Holland auf und schifft sich nach Portugal aus. Die Dokumente bleiben verloren. Ein besonders brisanter Vorgang, da die Jesuiten die Gegenreformation tragen und Königin Christina nur wenig später zum katholischen Glauben übertritt.  /29/

Die Reichskanzlei ist zu dieser Zeit Dreh- und Angelpunkt der schwedischen Politik. Reichskanzler Oxenstierna ist seit dem Tod Gustav Adolfs 1632 einer der fünf Vormünder für die noch unmündige Königin Christina und bestimmt maßgeblich die schwedische Reichspolitik. 1634 nehmen die schwedischen Reichsstände neue Verwaltungsgesetze an, die als Muster der Staatskunst gelten und das schwedische Königtum stark an das Handeln des Reichsrates binden. Ab 1648 wird in Münster und Osnabrück der Friedensvertrag zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges ausgehandelt. Schweden sendet zwei Unterhändler nach Westfalen darunter einen Sohn Oxenstiernas. Die westfälischen Friedensverträge ordnen die politische Landschaft Europas neu, Schweden festigt in dieser Zeit unter maßgeblichem Einfluss Axel Oxenstiernas seine Großmachtstellung, die es unter Gustav Adolf errungen hatte. Als Oxenstierna 1654 stirbt, übernimmt sein jüngerer Sohn Erik zunächst die Geschäfte des Reichskanzlers, aber auch er verstirbt schon zwei Jahre später. Daraufhin erhält der noch junge Magnus Gabriel De la Gardie das Amt des Reichskanzlers. Gleichzeitig übt er eine führende Rolle im Reichsrat und ab 1660 in der Vormundschaftsregierung für den unmündigen Karl XI. aus.

Stockholm von Norden im Jahre 1574 Kupferstich von Franz Hogenberg
Stockholm ist im 17. Jahrhundert mit etwa 10.000 Einwohnern bereits eine recht große lebendige Stadt, die sich in nichts von anderen europäischen Städten unterscheidet. Das Zentrum mit dem Königsschloss Tre Kronor und der großen Storkyrkan liegt auf einer Insel zwischen dem Mälarsee und der Ostsee. Ein Großteil der Häuser ist aus Ziegelsteinen gemauert und besitzt die für Schweden typischen mit Gras bewachsenen Torfdächer. Gleichzeitig gibt es aber auch schon viele massive Adelspaläste. In der nördlichen Vorstadt liegen fast alle Gewerbe, die für die Kriegsführung notwendig sind. Hier befinden sich Werft, Kanonengießerei, Reepschlägerei und Exerzierplatz.

Ein Jahr nachdem Johan Mattsson in der Reichskanzlei in Stockholm zu arbeiten beginnt, heiratet er 1641 Ingeborg Andersdotter. Sie ist die Tochter des Kämmerers König Karls IX. Anders Nilsson. Doch schon 1646 stirbt sie, wahrscheinlich kurz nach der Geburt ihres Sohnes Anders. Ihr ältester Sohn Axel ist erst drei Jahre alt. Er und seine zwei Jahre ältere Schwester Helena haben an die leibliche Mutter wohl nur wenige Erinnerungen.

Olavus Laurelius
Am 20. Februar 1649 wird der 34jährige Johan Mattsson unter Königin Christina mit dem Namen Wijnbladh geadelt. Da ist er bereits zum zweiten Mal mit der noch nicht einmal 18jährigen Catharina Laurelia verheiratet. Sie ist die Tochter des Bischofs von Västerås Olavus Laurelius und wird ihrem Ehemann sechs weitere Kinder gebären. Den beiden Stiefkindern Axel und Helena ersetzt sie die Mutter. Axel ist jetzt sechs Jahre alt. Johann Mattson Wijnbladh erhält mit der Adelsnaturalisation die Güter Risberga im Kirchspiel Östuna (Stockholm) und Skenala im Kirchspiel Bettna (Södermanland) zu Lehen. Risberga ist ein zwei Hufen großes Rittergut mit Sägemühle - bis 1724 bleibt es im Besitz der Familie. Es liegt östlich des Sees Valoxen, etwa auf halbem Weg zwischen Stockholm und Uppsala. Skenala in Södermanland wird 1664 verkauft, dafür erwirbt die Familie aber mit Kvalsta ebenfalls im Kirchspiel Östuna und Kleva im Kirchspiel Björnlunda in Södermanland andere Güter. Die Adelsnaturalisation Johan Mattssons fällt in eine Zeit, in der Königin Christina besonders daran interessiert ist, den ihr wohlgesonnenen Adel zu stärken. Im gleichen Jahr erwirkt sie auf dem Reichstag von den Reichsständen die Ernennung ihres Cousins Karl Gustav von Pfalz-Zweibrücken zum Nachfolger - dazu ist ihr jede Stimme willkommen. Erst nach dieser Zusage lässt sie sich im folgenden Jahr zur Königin krönen.

Doch schon am 30. August 1659 verstirbt Axels Vater Johan Mattsson Wijnbladh in Stockholm. Einen Tag nach dem plötzlichen Tod kommt seine Ehefrau Catharina Laurelia - wohl als Folge der Aufregung - mit einem Sohn nieder. Sie nennt ihn Johan, wie ihren gerade verstorbenen Ehemann. Axel ist beim Tod des Vaters sechzehn Jahre alt und noch Student auf der Universität in Uppsala. Die Leichenfeier für Johan Mattsson Wijnbladh findet am 16. Oktober in der Stockholmer Storkyrkan - Dom und Krönungskirche - statt. Beerdigt wird er in der Kirche in Östuna zu deren Kirchspiel sein Gut Risberga gehört. Johann Mattsson Wijnbladh war bei seinem Tod erst 44 Jahre alt - mitten auf dem Schaffenshöhepunkt. Seine Witwe Catharina Laurelia bleibt mit sechs kleinen Kindern - den zwei Söhnen Olof und Johan und den vier Töchtern Margareta, Catharina, Christina und Ingeborg zurück. Die beiden Kinder aus erster Ehe Helena und Axel sind mit 18 und 16 Jahren schon fast erwachsen, trotzdem wird der frühe Tod des Vaters ein schwerer Einschnitt für sie gewesen sein. Erst vier Jahre später verheiratet Catharina Laurelia sich zum zweiten Mal mit dem Rittmeister im Leibregiment zu Pferde und späteren Stadtkommandanten von Stockholm Johan Forbes, der aus schottischem Adel stammt und Güter in Preußen besitzt.  /8/